Als der Zweite der Weltkriege vorbei war

Als ich in Leipzig auf die Welt kam, war der Zweite der Weltkriege gerade vorbei. Europa stand in Trümmern. Die Zukunft war auf den Tag beschränkt. Auf die nächste aufgesparte Scheibe Brot, gebacken aus mehr Sägespane als Mehl. Millimeterdünn geschnitten. In Kaffeesatz geröstet. Kartoffelschalen. Zu Brei verkocht. Graupen in Wasser. Linsen in Wasser waren Luxus. Milch gab es nicht, aber meine Tante trieb Hafermehl auf. Ein Arbeitskollege gab ihr Harzerkäse gegen Damasttischdecken. Tante Elisabeth hatte die Silberbestecke ausgegraben und tauschte sie nach und nach um in Zucker, Fette. Kartoffeln. Einmal ergatterte sie Reis und Kakao. So lernte ich als Kind nach den Sägespänen auch Grieben und Harzerkäse zu essen. Selten winzige Speckstücke. Immer alles langsam kauen.
Die weißen Rosenbüsche in der Idastraße blühten im Sommer 1945. Im Winter erfroren die meisten der Stöcke. Im Hungerwinter von sechsundvierzig auf 1947 war an Weihnachten nicht zu denken. Meine Tante legte die schönste und größte der Damastdecken auf den Tisch und erzählte, wie in den guten Zeiten alle zum Schabbat, zu Weihnachten zusammenkamen. Vor 1940, bevor fast alle der großen Leipziger-Berliner Familie aus Deutschland geflohen waren. Nach England, in die Vereinigten Staaten, nach Kanada, Frankreich, in die Niederlande, nach Italien. Ein Onkel landete bei dem Fliehen vor den Deutschen in Burma und heiratete eine Prinzessin, dann kamen die Japaner und sie flohen weiter nach Macau.
Weißt du noch, damals an den Freitagabenden als alle an dem großen Tisch saßen, durcheinanderredeten und lachten, die Brüder über Politik stritten, damals als alle noch in Leipzig und Berlin waren. Wie sie alle Pläne hatten, was sie werden wollten. Damals in der Idastraße. Aber daraus wurde nichts. Eine der großen Tischdecken aus Damast habe ich noch. Um sie für den großen Tisch in unserem Haus zu nutzen, muss sie in der Länge und Breite auf die Hälfte gefaltet werden. Zu Weihnachten. So wird einmal im Jahr an meinem Tisch an eine andere Gesellschaft gedacht. Deutschland, wie es nicht werden konnte. Deutschland, wie es sich um Zukunft, Wissen und Gefühle brachte.
In den guten Zeiten saßen an dem großen Tisch in Leipzig sechszehn und mehr Menschen, verwandt, verlobt. Sie aßen, lachten, redeten, schmiedeten Zukunftspläne. Sie hatten alle noch so viel vor und meine Großeltern bestärkten sie. 1940 im Sommer gab es nur noch meine Großeltern und die Jüngste, meine Mutter. Die großen Feste waren vorbei. Die Großeltern starben, meine Mutter verschwand, sie wurde unsichtbar.
Nach den eiskalten Hungerwintern gab es das erste Weihnachten, das ich erinnere. Der allererste Adventskalender meines Lebens. Tante Lisbeth hatte eine Schnur, an der sie Streichholzschachteln festband, im Esszimmer an einen Tannenzweig gehängt. Vierundzwanzig Mal schnitt ich eines der bunt beklebten Kistchen ab, zog sie auf und erlebte eine Überraschung: eine Walnuss. Eine Rosine. Einen goldenen Stern. Eine kleine Silberkette. Nach der vierundzwanzigsten Schachtel war Chanukka vorbei und es war Weihnachten. Tante Lisbeth lachte gerne. Und Onkel Jacob erzählte Geschichten aus der Welt. Das war schön. Das war noch in Leipzig. Die Stadt, aus der ab 1933 außer meinen Großeltern und meine Mutter alle geflüchtet waren, um wenigstens ihre Leben zu retten. Manche kamen zurück, um einige Jahre später noch einmal ihre Heimat verlassen zu müssen. Tante Lisbeth und Onkel Jacob verpassten den Zeitpunkt. Beide waren sofort nach Kriegsende aus Liverpool zurück nach Leipzig gekommen. Zurück in ihre Heimat, die zum Gefängnis wurde. Sie durften nur je einmal getrennt ausreisen. Onkel Jacob im Sommer, Tante Lisbeth zu einem Weihnachtsfest. Sie wollten weg, aber nicht allein.
In meiner Kindheit war oft vom Festhalten des Augenblicks die Rede. Wortwörtlich. So ein Tag, so schön wie heute, der dürfte nie vergehen. Wurde gesungen, gemeint war diese Sekunde und dieser eine Blick. Das war der Wunsch, als die schlimmsten Zeiten, die Kälte, der Hunger überstanden, die Zonen getrennt waren. Nicht erinnern und nicht planen. Der erste Schaumwein. Trinken. Die erste Schokolade. Aufreißen und essen. Nylonstrümpfe. Ein Ei. Roh oder gekocht. Verschlingen. Eine fette Leberwurst. Fingerdick aufs Brot schmieren. Endlich. Die Währungsreform im Westen hatte auch in der Ostzone die Schaufenster für ein paar Tage mit Waren gefüllt. Harte Kastenbrote. Graue Leberwurst. Grieben. Kartoffeln. Klumpiges Mehl. Bleiche Nudeln. Der Laden meiner Großmutter stand immer noch leer. Aber es ging vorwärts. Mit roten Fahnen und neuen Bonzen.
Meine Mutter und ich flüchteten aus der DDR 1952, mit zwei Rucksäcken, einer Handtasche und einem großen Holzkoffer. Bei Nacht und Schnee in die Tschechoslowakei. Mit Zügen, ohne Fahrkarten und Papiere. Ohne Zuzugsgenehmigungen für irgendeine der Zonen. Weiter nach Bayern ins Lager Moschendorf. Bis Kriegsende ein KZ. Meine Mutter hielt die Menschen, den Dreck, die Enge nicht aus. „Keine Lager, keinen Schmutz mehr“, sagte meine Mutter. Sie war einige Monate in einem der Lager gefangen gewesen. Wir flüchteten weiter bis an den Bodensee. Ein Buchhändler floh mit uns. Er hatte in Leipzig seine Lehre als Buchhändler absolviert. Er floh nach Hause. Friedrichshafen. Blick auf den Säntis. Bei klarem Wetter.
Als ich den Berg, den Säntis mit seiner weißen Mütze, das erste Mal sah, wusste ich seinen Namen nicht und auch nicht, dass am anderen Ufer die zugesperrte Schweiz lag und dass es dort Dinge gab, die ich noch nie im Leben zuvor gesehen, geschmeckt und gerochen hatte: Schokolade, Orangen, Bananen, Milch, Kakao und Marzipankuchen. Nugat. Schoggi. Ich wusste auch nicht, dass es hinter diesen weißen Bergen noch sehr viel mehr Welt gab.
Was hatten wir aus Leipzig mitgebracht? Was war in dem Holzkoffer? Eine Damasttischdecke, Silberbestecke, Papiere zum Besitz des Hauses in Leipzig. Kleidung. Großvaters Säbel. Großvaters Sattlerwerkzeuge. Großvaters Taschenuhr und sein Seidenschal. Abtrockentücher aus Großmutters Bestand, bestickt und noch unbenutzt. Einige Fotoalben. Eine Pelzstola. Eine Lederetui mit einer silbernen Schere und einem silbernen Fingerhut. Ein merkwürdiges Sammelsurium.
Als Kind fragte ich die Verwandten oft, was war in deinem Koffer? Die nach England geflüchteten Blumenthals landeten ohne Gepäck in Liverpool, ihnen waren nur die Rucksäcke und zwei Aktentaschen geblieben. Die meisten gingen unauffällig mit zweifach angezogener Kleidung, Handtaschen und Rucksäcken. Niemand wollte erkennbar über die deutschen Grenzen, nur Verwandte, Freunde in der Nähe besuchen. Nur ein Ausflug. Die Zugfahrten waren sorgfältig bedacht und verliefen selten wie geplant. Da standen Gestapomänner auf dem Bahnsteig, da durchsuchte die SS einen Zug. Oder andere Reisende wurden abgeführt. Lieber noch einmal im Kreis fahren. Und auch wer die Genehmigung für eine Ausreise hatte, verhielt sich unauffällig. Ein kleiner Koffer. Besitz und Geld musste mit Hilfe anderer gerettet oder als verloren ausgebucht werden in der Lebensbilanz. Millionen Mal musste die Existenz, alle Gefühle, Wissen und Können, alles Leben ausgebucht werden. Keinen Hut mehr zum Ziehen, Kein Lächeln. Kein Guten Tag der Nachbarn mehr. Keine Luft mehr zum Atmen.
Meine Mutter und ich kamen über alle Zonengrenzen bis an den Bodensee und fanden einen Unterschlupf in der Drachenstation, direkt an der zerstörten Ufermauer gelegen. Ein neuer Lebensroman. Der Sinn war zu leben. Nach dem Überleben. In der Fremde zu leben.
Vor der ehemaligen Wetterstation bogen sich Bahngleise in die Luft, ein zerbombter Kran hing quer ins Wasser. Wir schliefen auf Strohsäcken, hatten nichts zu essen, waren Fremde. Mit den Monaten kamen immer mehr Flüchtlinge aus der DDR, Geflüchtete aus den baltischen Ländern, aus Schlesien und Ostpreußen waren schon länger da. Die Einheimischen waren nicht begeistert von all den Fremden, die das Schwäbisch nicht verstanden und keine Ahnung hatten was Geselchtes und Gsälz war. Die meisten Schwaben mochten keine Flüchtlinge, gleich woher sie kamen. Alles ein Pack. Hungerleider. Und dieses Pack konnte nicht nur kein Schwäbisch, sondern war auch nicht katholisch. Protestanten, Alt-Lutheraner,  . Und dann waren da noch die französischen Soldaten und ihre Familien.
Das erste Weihnachten am See, in der ausgebombten Stadt Friedrichshafen, fand in der Schiffswerft neben der Drachenstation statt. Hafenarbeiter und Matrosen hatten einen Tannenbaum geschlagen, Kerzen gegossen, Sterne waren gebastelt worden. Der Mann, dem die großen Kieshaufen gehörte, brachte eine Krippe und stellte sie unter den Baum. Die Kinder, die Blockflöten hatten, mussten Weihnachtslieder üben. Ein Matrose verkleidete sich als Nikolaus, einer als Knecht Ruprecht. Der Schnee lag hoch und es war sehr kalt. Die kleinen Bolleröfen knatterten laut. Auf jedem stand eine Blechkanne mit Tee, Kaffee und Wein. Als es dunkel wurde, kamen immer mehr Menschen in die Werft, auch die drei Männer, die neben der Drachenstation in einer Baracke lebten und immer noch ihre gestreiften Lagerjacken trugen. Ein aus Afrika heimgekehrter Missionspfarrer las die Weihnachtsgeschichte, sprach ein Gebet und einen Segen. Alle sangen, die Kinder piepsten auf ihren Flöten. Dann verteilten die Einheimischen an die Flüchtlinge Brezeln und wir Kinder bekamen alle ein Weckle und einen Schübling. Zum Schluss gab es noch Geschenke, alle hatten sich eine Kleinigkeit überlegt: Die drei Männer hatten Walnüsse gesammelt und aus Kastanien kleine Figuren gebastelt, die Matrosen aus der Schweiz einen Block Schokolade mitgebracht und in kleine Stücke geschnitten. Meine Mutter verschenkte zwei Spitzenuntersetzer, und ich hatte vier Kartoffeln von einem Lokomotivführer, der seinen Garten hinter der Drachenstation hatte, erbettelt und jede in Papier gewickelt. Dann tobten wir Kinder durch die Werft und die Erwachsenen tranken Glühwein oder Tee und Kaffee mit einem Schuss Rum und redeten. Woher sie kamen, wo sie Unterschlupf gefunden hatten, wie es weitergehen sollte. Nicht alle wollten am Schwäbischen Meer bleiben. Manche wollten in die Schweiz oder in eine andere Zone, in ein anderes Bundesland zu Verwandten.
Friedrichshafen war eine sehr zerbombte Stadt. Die vier großen Rüstungsbetriebe Luftschiffbau Zeppelin, Maybach Motorenbau, die Zahnradfabrik und die Dornierwerke waren Ziel der Angriffe gewesen. Vierzehntausend ausländische Zwangsarbeiter und über tausend KZ-Häftlinge schufteten in diesen Werken. Bis April 1945 errichteten Häftlinge einen unterirdischen Stollen bei Überlingen, den Goldbacher Stollen, um die Rüstungsindustrie aus Friedrichshafen zu verlagern. Elf Luftangriffe gab es zwischen 1943 und Februar 1945. Nur der Mut des Bürgermeisters und vieler Einwohner verhinderte, dass die Stadt bis zum letzten Haus verteidigt wurde. Zum Kriegsende lebten nur noch siebendtausendsechshundertfünfzig Menschen in der Stadt. Bei Kriegsbeginn waren über fünfundzwanzigtausend gewesen. Die drei Männer aus der Baracke neben der Drachenstation waren Häftlinge gewesen, Ukrainer. Nach Hause wollten sie auf keinen Fall, nicht in die Hände der Russen fallen. Das hätte ihren Tod bedeutet.
Nicht ganz zerstört worden, war die Schlosskirche am anderen Ende der Uferpromenade. Ihre Zwiebeltürme waren immer in der Ferne zu sehen. Der Südturm war abgebrannt und der Dachstuhl schwer beschädigt. Mit Schweizer Hilfe wurde ein Notdach errichtet.
Die Schlosskirche war eine wunderschöne evangelische Barockkirche und so trafen sich am nächsten Weihnachten alle Geflüchteten dort wieder. Die Kinder mit ihren Flöten, ein kleiner Chor, der Pfarrer, die Fremden, denn die waren protestantisch, die Einheimischen katholisch. Von der Eriskirche in der Stadtmitte stand nur noch der Turm.
Als es am Heiligen Abend dunkel wurde, blieben die Katholiken in der Stadt, die Fremden bildeten zusammen mit den französischen Soldaten und ihren Familien einen Zug entlang der Uferpromenade. Immer weiter und vorbei an einem Hafen für Segelboote und noch weiter bis zur Schlossstraße. Entlang der Mauer, die die Kirche mit ihren vielen Eingängen umgab, zum Haupttor. Der Schnee lag hoch. Eisenbahner hatten Laternen mitgenommen und so war die Menschenkette am See von der Stadt aus zu sehen. Die Alpen, der Säntis, der See und davor der Lichterzug zur Schlosskirche. Wir Kinder rannten vom Schlosssteg zum Schlosshorn und weiter zu dem Pavillon Mon Plaisir und wieder zurück zu den Erwachsenen, die sich in der eiskalten Kirche um den Altar und den Tannenbaum und die Krippe drängten. Wir Kinder waren dick eingepackt und saßen unter dem Tannenbaum am Altar. Der Pfarrer erzählte den Fremden von der afrikanischen Fremde. Viel gesungen wurde in allen möglichen Sprachen. Die Weihnachtsbotschaft, die Flötentöne piepsten, der Segen und alle sangen Oh du Fröhliche. Dann durfte jedes Kind sich ein Päckchen unter dem Baum holen. Ein Apfel, eine Orange, ein Gebäckstück, ein bunter Schokoladenkringel. Alle umarmten einander, schüttelten Hände, wünschten sich Frohe Weihnachten, ein paar wenige sprachen Polnisch, Lettisch, Tschechisch oder Russisch. Gott segne euch, sagte der Pfarrer noch und gab auch jedem die Hand.
Nein, zurückgeholt werden konnte die verlorene Heimat nicht, nicht die Wörter  über das Elend, aber die Schlesier schenkten den Juden eine selbst gemachte Weißwurst. Eine baltische Familie musizierte. Wir lernten singen und neue Wörter. Die Franzosen verteilten warme Maronen und Marmelade. Der Pfarrer verschenkte Äpfel und Nüsse. Und es fanden sich immer mehr Worte. Gesten. Leben. Hilfe.
Dann wurden die Laternen wieder angezündet und der Zug wanderte an den zerbombten Ufermauern zurück in die Stadt. Ein paar Jahre lang fanden die Fremden an Heiligabend sich in diesem Gang zur Schlosskirche zusammen. Der Baum wurde prächtiger. Zu den Flöten kamen Geigen. Der Chor wurde größer und übte jeden Monat. Der Pfarrer wurde ordentlicher Gemeindepfarrer. Die Kirche wurde repariert und restauriert. Und die Flüchtlinge hatten sich auf verschiedene Weise in das Leben in eingefunden. Auch wir Kinder hatten uns zu neuen kleinen Rudeln sortiert.
Meine Mutter und ich wohnten inzwischen in der Eckenerstraße, neben dem Stellwerk und den Trajektgleisen. Inzwischen fuhren wieder Fähren in die Schweiz und Schiffe nach Lindau und Konstanz, Meersburg und Bregenz. Wir Kinder aus der Nachbarschaft tobten gemeinsam durch die Ruinen. Im Dezember 1953 lag der Schnee meterhoch. Niemand kam mit dem Schneeräumen hinterher. Die Berge wurden immer höher. Die wenigen Autos fuhren im Schritttempo. An Heiligabend fielen die Flocken immer dichter und schneller. Wir Kinder liefen durch die Stadt, immer weiter, bis zum Schlosssteg am Ende der langen Uferpromenade. Wir waren aufgeregt. Der Schnee, Weihnachten, vor dem Gang zur Kirche hatte Frau Beck ihren Kindern, Regina und Heinz, und mir Kakao und einen Wecken mit Wurst versprochen. Wir schrien und warfen mit Schneebällen, schmissen uns in einen Schneehaufen, gruben uns ein, jubelten: Die finden uns nie. Da saßen wir und waren glücklich, mit hochroten Köpfen, warm eingemummelt. Wir teilten einen Keks, den Regina vom Backblech ihrer Mutter gemopst hatte. Wir wurden stiller und müde, bald schauten nur noch unsere bunten Mützen aus dem Schneeberg. Die Dunkelheit ließ uns unsichtbar werden. Wir schliefen ein, wir waren verschwunden. Und die ganze Stadt suchte nach uns. Die Gottesdienste wurden verschoben. Polizisten, Feuerwehr und französische Soldaten suchten mit Laternen und langen Stöcken die Promenade und alle Straßen zur Promenade ab. Wäre nicht die Küsterin gewesen, die den Ofen in der Kirche heizte und durch den aufgeregten Pfarrer von der Suche erfuhr, die in immer größeren Kreisen zusammen mit ihrem Hund um die Schlosskirche nach uns suchte. Vom Badehaus, entlang der Wege bis zum Schlosshorn und Schlosssteg, dort stieß sie auf zwei französische Soldaten, die sich durch die riesigen Schneehaufen stocherten. Aber es war der Hund, der uns fand, bellte, kratzte, jaulte. Wir wurden halb erfroren wach. Die Soldaten zogen uns aus dem Schnee und trugen uns in die Kirche, dann liefen sie in die Stadt.
Wir saßen ins Decken gehüllt neben dem Ofen, tranken heißes Wasser, aßen Kekse und wussten nicht, wie uns geschah. Nach und nach kamen Menschen aus der Stadt zum Weihnachtsgottesdienst. Frau Beck setzte sich zu ihren Kindern und hielt sie fest in ihren Armen, obwohl Heinz schon zehn Jahre alt war. Für die Gemeinde waren wir das Weihnachtswunder. So laut und voller Freude wurde nie wieder O du Fröhliche gesungen.
All ich älter war, sang ich im Kirchenchor, saß gerne bei allen Gottesdiensten auf der Empore, aber unvergessen diese ersten Weihnachten am Bodensee, wenn wir zur Kirche liefen, sangen und die Erwachsenen miteinander redeten. Endlich gab es wieder Worte. Auch wenn die Sätze sich meist entlang der Fluchten und der verlorenen Heimat hangelten.

Wie schrieb Hilde Domin:
„Das eigene Wort,
wer holt es zurück,
das lebendige,
eben noch ungesprochene Wort?“

© J. Monika Walther
www.jmonikawalther.eu

Fluchtlinien: EBook und Taschenbuch