Die schlimmsten Verbrechen geschehen aus dem Gefühl der unstillbaren Rache:
Stille Morde
Einen Groschen kostete eine Stunde Klavierunterricht nach dem letzten großen Krieg. Einen einzigen Groschen. Das kleine Mädchen besaß keinen dieser messingfarbenen Geldstücke. Nicht einmal einen Pfennig. Das kleine Mädchen war schon weit herumgekommen mit seinen sechs Jahren: Von Leipzig aus 1952 in ein Flüchtlingslager bei Moschendorf. Dorthin waren seine Mutter ohne Papiere und das kleine Mädchen ohne Papiere mit einem Zug quer durch die Tschechoslowakei gelangt. Das kleine Mädchen war durch den Zug gelaufen. Hin und her und hin und her. Die Mutter war an allen Haltestationen aus dem letzten Wagen ausgestiegen und hatte im Schnee gewartet, bis der Zug weiterfuhr. Aus dem Lager flüchteten sie dann weiter, ohne Papiere, weiter bis an den Bodensee. Nach Friedrichshafen. Die Schweiz ließ sie nicht ins Land, also blieben sie auf der anderen Seeseite, mit Blick nach Romanshorn und dem Säntis.
Das kleine Mädchen lief durch die Trümmer, zwischen den dürren Erwachsenen, zwischen den humpelnden Einbeinern und einarmigen Männern. Das kleine Mädchen lächelte für verschrumpelte Äpfel und Brotrinden und schwatzte alten Männern, die vesperten, einen schmalen Streifen geräucherten Speck ab. Das kleine Mädchen sah eines Tages hinter einem Fenster eine alte Frau. Die alte Frau war dreißig Jahre, blass und hatte ihre langen dunklen Haare als fest geflochtenen Zopf um ihr Gesicht gelegt. Das kleine Mädchen hörte Musik. Töne. Ein Klavier. An der Haustür stand auf einem Pappschild: Klavierunterricht. Zu allen Zeiten. Bitte klingeln bei Fräulein Musbach. Das Mädchen klingelte. Fräulein Musbach öffnete. Sie war groß und schlank, in einen Wickelrock gekleidet. Über dem Pullover trug sie eine Jacke aus einem Wehrmachtsmantel genäht. Die Hände steckten in Handschuhen, deren Finger abgeschnitten waren.„Ich möchte Klavierunterricht zu allen Zeiten“, sagte das Mädchen.
„Eine Stunde kostet einen Groschen“, erwiderte Fräulein Musbach. Ohne jedes Lächeln. Aber sie ließ das Mädchen für einen Augenblick in ihr Zimmer. Da stand ein Flügel, aufgeklappt. Bett, Schrank und Tisch waren an die Wände gerückt.
„Es ist zu kalt“, sagte die Klavierlehrerin und zeigte ihre Hände. „Es ist zu kalt für mich und das Instrument. Wenn du keinen Groschen hast, musst du wieder gehen.“ Das kleine Mädchen berührte eine Taste, ein sanftes D, dann ging es nach Hause und fragte seine Mutter nach einem Groschen.
„Nein“, sagte die Mutter.
„Warum Nein?“ fragte das Mädchen und bekam keine Antwort. Das Mädchen beobachtete seine Mutter und entdeckte, dass sie Geld beiseitelegte: „Für einen Schrank. Für einen Tisch. Für Stühle. Wir haben doch nichts mehr.“ Das Mädchen begann seine Mutter zu hassen. Das Mädchen ging jeden Tag zur Schule und war dort todunglücklich. Nach der Schule ging es einen langen Umweg an dem Haus der Klavierlehrerin vorbei, manchmal ging es auch nachmittags noch einmal an den zerborstenen Ufermauern entlang bis zu Fräulein Musbach und beobachtete sie durch das Fenster. Fräulein Musbach spielte immer Klavier. Einmal klingelte das Mädchen und gab der Klavierlehrerin ein gestohlenes Holzscheit. Dafür durfte es den Flügel betrachten und Fräulein Musbach zeigte ihr eine weiße Taste und sagte: „Das ist das C.“ Dann musste das Mädchen wieder gehen. Das Mädchen hasste seine Mutter noch mehr und begann zu träumen. Wenn es auf den Säntis schaute und vor sich hinträumte, war es weniger todunglücklich.
Eines Tages kam ein Onkel, der noch mehr herumgekommen war als das kleine Mädchen: Er war von Leipzig vor den Deutschen nach Burma geflüchtet und weiter nach Macau und dann 1945 mit einem Schiff zurückgefahren bis nach Hamburg. Das kleine Mädchen führte ihn am See entlang zu Fräulein Musbach und sagte: „Ich brauche sehr viele Groschen. Sehr viele!“ Der Onkel sprach mit der Klavierlehrerin. Er gab ihr viele Franken und er gab dem Mädchen einen Umschlag mit Scheinen: „Pass gut darauf auf. Das ist Dein Lebenskapital.“ Dann verschwand er mit einem Zug und schrieb Briefe aus Kanada, in die er Dollars legte, aber die kassierte die Mutter, obwohl die Briefe an das Mädchen waren.
Das kleine Mädchen erhielt nun Klavierunterricht zu allen Zeiten. Jeden Tag ging sie zu Fräulein Musbach. Eine Stunde Unterricht und eine Stunde Üben. Zwei Groschen, später fünfzig Pfennig, dann eine Mark. Da war das Mädchen nicht mehr so klein. Die Mutter hatte inzwischen einen Schrank, Tisch und Stühle gekauft. Betten, zwei Sessel, ein Radio; aber ein Klavier wollte die Mutter auf keinen Fall kaufen. Der Onkel griff noch einmal ein und ließ ein gebrauchtes Klavier anliefern, aber das half dem Mädchen nicht, weil die Mutter sich über den Klavierlärm beschwerte, das Üben verbot, Kopfschmerzen vorgab. Bei Fräulein Musbach konnte das Mädchen nicht mehr als die eine Stunde am Tag üben, weil die Klavierlehrerin selbst viele Stunden üben und spielen musste: Sie hatte die springenden Sekunden entdeckt. Sie gab kaum noch Unterricht. Sie wollte nur eines: In der Stille zwischen dem Anschlagen der Tasten verschwinden. Fräulein Musbach zeigte dem größer werdenden Mädchen immer und immer wieder, worin die Kunst und das Geheimnis der springenden Sekunden lagen. Sie sagte: „Nur diese Sekunden öffnen die Zeitfenster. Und nur durch diese Zeitlöcher sind die Vergangenheit und die Zukunft zu erreichen. Die springenden Sekunden sind die Fenster zu allen anderen Welten und Zeiten. Du kannst darin verschwinden und andere in dieser toten Zeit verschwinden lassen.“
Fräulein Musbach hatte das langsame Spiel an einem Kanon geübt, siebzehntes Jahrhundert, die linke Hand musste mit der Bassfigur das Tempo halten, achtundzwanzig Mal; die Rechte durcheilte die Melodien in Sechzehnteln, Vierteln oder Achteln. Legato Portato. Die linke Hand war das körpereigne Metronom. Sie übte Wochen und als sie eines Tages den ersten Ton, das D anschlug, das Pedal berührte, hörte sie den von ihr geschaffenen Ton für eine schleichende Sekunde lang, dann wurde es still. Am nächsten Tag übte Fräulein Musbach wieder und diesmal war es der Klang des großen A, der in der Zeitlücke verschwand. Sie hatte eine kaum fassbare Erfindung gemacht: Die toten Sekunden zerfielen in nicht definierbare Zeitpartikel. Für einen unkontrollierbaren Bruchteil setzte die Zeit aus.
Frau Musbach verlor sich in ihrem Spielen der stillen Himmelsaugenblicke. Sie wollte gar nicht mehr, dass ihr jemand zuhörte. Nachdem sie dem Mädchen gezeigt hatte, wie es üben musste, wollte die Klavierlehrerin nur noch alleine sein. Groschen, Markstücke, Scheine, alles Geld waren ihr egal. Das Mädchen fühlte sich ein zweites Mal verraten und verkauft. Es ging nach Hause, schloss sich mit dem Klavier ein und übte, bis sie die toten Sekunden so beherrschte, dass sie in ihnen verschwinden konnte. Sie liebte diese Stille, in der kein Mensch ihr etwas anhaben konnte. Sie war unerreichbar. Aber damit gab das Mädchen sich nicht zufrieden. Sie lockte ihre Mutter zum Klavier, versprach ihr hoch und heilig nur ein letztes Mal noch spielen zu wollen. Ein allerletztes Mal. Sie schlug ein tiefes Fis mit der linken Hand, nahm ihre verhasste Mutter rechts mit in die Zeitlücke hinein und ließ sie los. Weg war sie, verschwunden war die Mutter in der toten Sekunde. Das Mädchen hatte endlich einen Weg gefunden, mit dem Leben, das andere ihr vorsetzten, fertigzuwerden. Sie übte, sie lernte, sie wurde größer und gelegentlich verschwanden Menschen. Immer waren sie zuletzt bei dem Mädchen gewesen, das inzwischen eine junge Frau war, aber es gab keine Spuren. Auch Fräulein Musbach war weg.
Irgendwo, davon wusste aber niemand, gab es Zeitzimmer, in denen schrien einige der Verschwundenen vor Wut, weil sie nicht mehr in ihr Leben zurückkonnten. Fräulein Musbach weinte, weil sie nicht mehr Klavierspielen konnte.
© J. Monika Walther