Die Ökonomie der Poesie und Digitalisierung der Kultur – Dickinson und Droste mailen

 „Nahm einen Schluck vom Leben –
Ich sag dir was ich gezahlt –
Genau eine Existenz  –
Der Markt-Preis, wird gesagt“, schrieb Emily Dickinson.

Emily Elizabeth Dickinson lebte von1830 bis1886. Hätte es damals schon Internet gegeben, dann hätte Emily mit der Droste mailen und sie hätten einander verraten können, was die vielen Gedankenstriche in ihrer beider Werk bedeutet. Das viele Nicht- Gesagte.
Annette von Droste-Hülshoff oder vielmehr Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff lebte von 1797 bis 1848, könnte der Dickson antworten:
Blicke über Wassergräben und geschorene Hecken.
Harter Buchsbaum und feuchte Mauern.
Die Wahrheit als eine absolute behauptete – ist mehr
als das dramatische Ende jeder Erzählung:
Sie tötet jede weitere Frage, mein Denken, mein Leben.
Also lass uns fern der Wahrheit bleiben. Oder siehst du
eine Leiter in den Himmel? Wenigstens
den Konjunktiv – um dem Quadrat zu entrinnen?

 Emily könnte aus Amherst in den Vereinigten Staaten antworteten:
Ich kaufe ein Schreibheft – und beginne zu notieren.
Dass ein Nachbar vorübergeht. Nötigung und Versuchung –
zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig: Meine Tür bleibt verschlossen.
Um halb drei ein einzelner Vogel. Um halb vier tausend Krähen, sie haken mich tot, aber ich lächle tapfer und schreibe Briefe. Ich notiere:
Der Tod einer schönen Frau, ist, ohne Zweifel, das poetischste Thema, sagt Edgar Allan Poe. Ich bin nicht schön. Oder? Du kennst mich nicht. Du siehst mich nicht. Ich bin nicht schön. Oder? Bin ich schön? Ich bin schön. Die dritte vierte fünfte Stunde der Vogelschläge. Und ich bin tot. Schön oder hässlich. Ich bin tot. Ich habe keinmal – geheiratet. Keinmal. Keinmal. Aber geliebt.Ich hatte meine Affären. Und meine Heckenschützen verdienen ihr Brot. Für jeden, den sie erschießen, gibt es ein belegtes Brötchen. Butter bis an die Ränder, zweimal mit dem Messer über die Krusten, die Butter in die Krume gedrückt und über die Ränder den salzigen Schinken gelegt. – Dass sie schießen. – Dass ich schön bin. – Dass keiner an der Tür klopft. Dass ich schön bin. Das weiß ich. Das sehe ich auf dem einzigen Foto. Eine fade Gans aus Amherst. Ich bin unsterblich.

Annette Droste mailt zurück:

Die Blicke der Väter.
Die Blicke der Männer.
Die Blicke über mich –
das Gerede zwischen Aasee und Schloss –
Der Schmerz hat keinen blinden Fleck.
Dazu die Leere des Sprechens.
Diese Kommentare auf ein Leben
Kommentare auf mein Lieben
Kommentare zu Nase und Locken
Bemerkungen zu Liebesmöglichkeiten
Entehrungen jeder Art – aber
nach mir sind Preise genannt.
Das Rüschhaus wird besichtigt.
Da mein Schreibtisch, das Spinett.
Das Fenster über der Diele.
Die feuchte Kälte, der Buchsbaum
draußen wie damals. Die Droste.
Sie schreiben über uns, Emily.
Sie verdienen Geld mit uns.
Sie wissen nicht, was sie von uns halten sollen –
Die Blicke sind unterschiedlich lang,
auch die Jahre. Und die Jahrhunderte.
Ich sage es dir: Das 19. Jahrhundert ist für Europa
ein sehr langes Jahrhundert, beginnt im
Jahre 1789 und endet erst 1914.

Das Résumé von Emily Dickinson und der Droste:

Ich sag dir, was ich gezahlt. Hundert Jahre.
Ich sag dir, was ich bekomme. Ich lalle und kichere.
Ich sag dir, was ich gezahlt. Eine Existenz.
Ich sag dir, was ich bekomme. Haut abgezogen, Schlitze reingeschnitten und einen Himmelsblick.
Ich sag dir, was ich tue: Ich schaue von innen durch die Löcher in meiner Menschenhaut und reise jeden Tag quer über die Pole.
Ich sag dir, draußen vergeht das Leben und wir sitzen herinnen,
gehen im Kreis und lassen uns den Atem rauben.

Emily Dickinson und Annette von Droste-Hülshoff, die beiden Dichterinnen der Gedankenstriche, sind heute gut verwertbare und interessante Damen. So viele Bücher über die beiden, Neuauflagen, Editionen, Hörbücher. Bearbeitungen. Diese Poesie rechnet sich nun. Der Mehrwert ist da.
Poesie bedeutet, dass eine sich der Sprache entziehende, über das Werk hinausgehende Wirkung geschaffen wird. Etwas das mehr ist als der Mehrwert und wir selbst.
Digitalisierung bezeichnet die Überführung analoger Größen in abgestufte Werte, zu dem Zweck, sie elektronisch zu speichern oder zu verarbeiten. 2007 wurde bereits 94 % der weltweiten technologischen Informationskapazität digital gespeichert (nach lediglich 3 % im Jahr 1993). Vermutlich war es der Menschheit im Jahr 2002 zum ersten Mal möglich, mehr Information digital als analog zu speichern: der Beginn des „Digitalen Zeitalters“. Sprachlich sind wir inzwischen so ungenau, dass alles und jedes „historisch“ ist und unentwegt neue Zeitalter beginnen.
Der Kulturbegriff hat immer auch einen Zusammenhang mit Zeitgeist, Herrschaftsstrukturen, gesellschaftlichen Klassen, Anschauungen und er deckt die Beschreibung ebenso ab wie die normative Verordnung, was Kultur zu sein hat. In der Kulturkritik werden dann die einzelnen Kulturleistungen des Menschen kritisch befragt auf ihre zerstörerischen, unmoralischen und unsinnigen Folgen.


„Kultur ist Reichtum an Problemen“, sagt der Kulturphilosoph Egon Friedell, eine schöne österreichisch schlampige Definition. Und schlampig beliebig wird mit diesem Begriff ebenso umgegangen wie mit dem der Ökonomie, der ursprünglich einmal für die Aufwendungen und Erträge galt, die der Mensch braucht, um seinen Unterhalt zu sichern. Das war sozusagen die Ökonomie 1.0. Es ging um das physische Überleben, dann folgte die Sicherung des Wohlstand und als Ökonomie 3.0 beschreiben einige Autoren eine infolge der digitalen Revolution und dem Web entstandene Ökonomie, die sich durch teilhabende Entwicklungs- und dezentrale Produktionsstrukturen auszeichnet. Die Idee dieser Autoren ist, dass die Kunden ihre Bedürfnisse im Internet formulieren und mittels sozialer Netzwerke Gleichgesinnte suchen. Firmen nehmen diese Vorstellungen auf und entwickeln das gewünschte Produkt oder die Interessenten sammeln per Crowdfounding das Geld für die selbstständige Entwicklung des Produktes. Menschen wären dann das immaterielle Kapital. Nach Meinung dieser Autoren untergräbt dies die bisherigen Produktionsstrukturen und demokratisiert die Produktionsprozesse. Das sind Wunschträume, denn der späte Kapitalismus erweist sich als außerordentlich habgierig und kapitalstark. Wahr ist aber, dass die Menschen und ihre Daten zu Kapital werden. Nicht für sich, aber für andere. Der Mensch degradiert sich selbst zum Datenempfänger und Datengeber. Und macht sich immer abhängiger – von den digitalen Lebensgefährten. Das digitale Virtuelle ist längst Wirklichkeit, aber es gibt auch noch die vielen anderen Realitäten, der wir wahrnehmen könnten, was natürlich Arbeit bedeutet, konzentrierte und sorgfältige Arbeit. Digital ist bis jetzt Masse, Unendlichkeit der Daten, Kopierbarkeit. Sie nützt dem Kapital, aber nicht uns. Und im Augenblick muss Europa nicht nur begreifen, dass nicht der Euro der Maßstab ist für diesen Zusammenschluss der Staaten, sondern Rechte, Menschenwürde, also die Vereinigten Staaten von Europa und nicht das vereinigte Kapital dieser Länder. Aber – in Sachen Ökonomie beginnt eine Neudefinierung von Wirtschaft. Ging es bisher um Digitalisierung von analogen Inhalten, beginnt step by step die Digitalisierung der Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Und was das bedeutet, das ist bis jetzt kaum vorstellbar. Deutschland ist kein Erfinder- und kein Dienstleistungsland, sondern immer noch ein Industrieland; die Algorithmen werden aber sogar das Kredit- und Anlagegeschäft völlig neu sortieren. Es geht nicht mehr um ein paar Apps und neue Programme, es geht um Software, die Alltag, Leben und den Kapitalismus verändern wird.
Jede Ära, jede Ideologie bringt ihr eigenes Menschenbild hervor. Deshalb hält sich die Illusion des Glaubens an Fortschritt und Wachstum hartnäckig auch auf allen Gebieten, wo längst kein Fortschritt mehr stattfindet. Deshalb konnten und können sich die reaktionärsten Zeiten immer wieder als modern gebärden, weil sie im Spiegel ihrer Bilder von der Wirklichkeit die Bestätigung ihrer eigenen Projektionen erblicken. Das Bild vom Menschen, das sich schließlich durchsetzt, wird zur Norm erhoben. (Anna Mitgutsch).

Aber es gibt Regulative, Bereiche, die resistent sind gegen Moden. Es hat zu jeder Zeit Kritik am Zeitgeist gegeben, besonders in der Kunst. Dort braucht es Wagemut, utopische Gedanken, Beständigkeit, Disziplin, Wissen um Geschichte und Verknüpfungen. In Kunstwerken, die uns das Unsagbare erahnen lassen, suchen wir nicht das Nützliche; sie sind Annäherungen an den nicht fassbaren Kern unserer menschlichen Existenz. Kunst, Poesie hat ein Geheimnis, das im Augenblick der Entdeckung ein Bild vom Menschen zum Vorschein bringt, das ihn den Moden und Zwängen der Zeit enthebt, ihn von seiner Zufälligkeit befreit. Aber natürlich wird auch diese Begegnung vom Kapital vermarktet, soweit sie nur irgend in den Griff zu bekommen ist.
Die österreichische Literaturwissenschaftlerin Anna Mitgutsch schreibt: Zeiterscheinungen wie Globalisierung, Primat von Kapital und Digitalisierung haben das Menschenbild und das Leben im letzten Vierteljahrhundert sehr verändert. Viel Begeisterung ist einer Skepsis gewichen; wenn die Welt trotzdem als besser erlebt wird, dann liegt das vor allem am gestiegenen Lebensstandard, dennoch können viele Menschen in der Übersättigung dieser glücklichen neuen Welt, mit Käuflichkeit fast aller Dinge und Konsum ihr Leben oft nicht genießen. Die Kulturindustrie hat die apokalyptischen Ängste der Bürger längst vermarktet, hohe Gewinne eingefahren, auch das immer auf allen Ebenen der Verwertungsmöglichkeiten. Ebenso wie die der Sinnsuche, auch sie ist, digitalisiert und vermarktet. „Die postmoderne Individualitätsbildung zielt auf die Formung des perfekten Konsumenten. Die Verweigerung von Verantwortung und die Bindungslosigkeit des flexiblen Menschen unterdrücken den moralischen Impuls und setzen moralisches Empfinden herab.“
(schreibt der polnisch-britische Philosoph Zygmunt Baumann).
Wie konnte dieser durchgestylte Materialismus entstehen? Neben dem Zerbrechen früherer Menschenbilder am Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und der Globalisierung der Geldflüsse gibt es auch den Grund des Verlustes der Zusammenhänge, der Auflösung der Zeit-Raum- Kontinuität, einer bis zum Wirklichkeitsverlust gehenden Fragmentarisierung der Realität und Funktionalisierung von Beziehungen. Alles wird zum Gegenstand der Unterhaltung und des Nützlichkeitsdenkens. Frage ist, ob das jeweilige Objekt bzw. Subjekt interessant und nützlich ist. Dieser Siegeszug der Postmoderne und ihrer Auswirkungen auf das augenblickliche Bild des Menschen steht im Zusammenhang mit der Allgegenwärtigkeit der Medien, sodass Ursache und Wirkung, Realität und Manipulation schwer zu unterscheiden sind. Manipulierte Realität und die virtuelle Welt und die Wirklichkeit werden immer mehr fragmentiert, sodass ein Sinn, das Ganze, die Entwicklung kaum noch zu erkennen sind. Wir haben nicht teil an der Realität, weil die Zusammenhänge, die Hintergründe aufgelöst sind, d. h., die Möglichkeiten der Digitalisierung stellen sich zwischen die Wirklichkeit und die Wahrnehmung. Eher zweifeln wir an der Realität als an den Bildern und Fragmenten, die über die Medien uns die Welt zelebrieren. Obama Merkel und die Weißwurst zwischen echten bayrischen Menschen, wir haben es alle gesehen. Absurdes teures Theater. Wir haben einen digitalisierten Salat im Kopf und alles hat seinen Marktwert, der vom Konsens der Mehrheit abhängt: Eine Perversion der demokratischen Idee. Alles ist käuflich, dabei sind die großen kulturellen Leistungen selten mehrheitsfähig. Die nicht in Mehrheitsfähigkeit umsetzbare Qualität wird mittels Quoten, Absatz, gelesene Seiten in messbare Quantität gedrängt, wobei die Börse eben keine Wertbeständigkeit kennt. Sie will Mehrwert, mehr Wachstum. Sie will auch nicht, dass wir die Welt begreifen, und uns kreativ mit ihr auseinandersetzen. Welt und Leben wird für viele etwas, das step by step ab zu haken ist. Dadurch, dass der Mensch in die Funktionalisierung und völlige Monetarisierung des Lebens eingebunden wird, werden auch Begriffe wie Würde, Integrität, Gewissen, Authentizität umgewertet. Der Narzissmus der ängstlichen und genussorientierten Selbstbeobachtung lässt kaum noch Auseinandersetzungen mit der Außenwelt zu.
Im Augenblick wird in der Gesellschaft der Narzissmus belohnt. Narzissten suchen nach Bewunderung. Mit der Digitalisierung (auch der Kultur) finden sie überall ein Publikum, und wenn es die tausend Menschen sind, die auf Facebook, Twitter oder Instagram folgen, und die neuen Schuhe, den Blick aus dem Fenster, das neue E-book oder die Hasstirade auf die Flüchtlinge bewundern, gutheißen. Man überlässt es nicht mehr den Profis, sich in Szene zu setzen. Als Narzisst kann man es heute weit bringen, allerdings bleibt trotz dieser fantastischen, wenn auch dilettantischen Möglichkeiten, immer die Kränkbarkeit der Narzissten. Sie verlieren ja die Orientierung, wenn die Bewunderung, der Applaus ausbleibt. Sie werden fassungslos und hasserfüllt, wenn jemand anders denkt und fühlt als sie selbst. Die brandstiftenden Fremdenhasser, die Judenhasser, die vielen Dilettanten gleich in welchem Bereich, ertragen ihr Gegenüber nicht, weil sie sich darin nicht wiedererkennen. In der digitalen Gesellschaft kann der Hass geäußert und die Kränkungswut ausgelebt werden. Und: Die Sprache der Behauptungen ist viel einfacher, weniger anstrengend als die Sprache der Nuancierung, der Ambiguität, der Genauigkeit, gar der Poesie.

Es geht nicht darum, Medien und Digitalisierung abzuschaffen oder irgendein Rad rückwärts zu drehen, aber was zurechtgerückt werden könnte, wäre das Bild des Menschen von sich, von der Wirklichkeit und von der Poesie, in der er, sie, es lebt. Der Mehrwert des Menschen sollte wieder ein geistiger, ein menschlicher sein, nicht in Kosten und Nutzen quantifizierbar. Allemal jenseits der besserwisserischen Abgebrühtheit und der achtungslosen Blasiertheit, die heute oft den Umgang zwischen Menschen und Amtsträgern prägt.

Jedes authentische Kunstwerk ist Ausdruck eines Dialogs zwischen Künstlern, Künstlerinnen und der Wirklichkeit. Im Kunstwerk verbindet sich das Materielle, Hörbare, Sichtbare mit dem Unsagbaren. Auch Sprache braucht Zeit zu ihrer Entfaltung (da sind wir wieder bei der Droste und Emily Dickinson), sie braucht Langsamkeit und Konzentration, sonst gerinnt sie zu Gemeinplätzen und Stereotypen. Genau solche Sprachsalate werden heute überall als Literatur verkauft. Massenware. Aber es geht nicht darum, Konsumenten bei Lust und Laune zu halten. Und die Aufgabe des Lebens besteht nicht darin, die eigenen Bedürfnisse zur optimalen Zufriedenheit zu erfüllen. Wir müssen uns die Wirklichkeit als Gegenüber zurückerobern und uns selbst und die Kunst dem Nützlichkeitsdenken entreißen. Die Oberfläche ist eben nicht die ganze Botschaft, so wenig wie die Schminke. Aber auch der Horizont ist im 20. und 21. Jahrhundert abhandengekommen. So gilt immer noch die Frage der Emily Dickinson: „lohnt auch das Geheimnis den einsamen Gipfelgang?“ Die dänische Dichterin Inger Christensen antwortet: „… eine Nacht ohne Licht, ohne Unterschiede, ohne all das, dem wir sonst Namen geben, eine Nacht, definiert durch die Abwesenheit von allem. Und dann kann es schon sein, dass dies ‚alles’ seine eigene Abwesenheit umfasst.“
Es lohnt sich das Handwerk, gleich in welchem Beruf, zu erlernen; es lohnt sich, sich dann auf den Weg zu Gipfeln zu machen und zu schauen, wie weit man kommt. Ohne das Nützlichkeit- und Mehrwertdenken. Punkt.
Streifen wir kurz noch durch die glitzernden Haupt- und Einbahnstraßen der digitalisierten Kultur und Ökonomie. Das Kapital interessiert an der Kunst ausschließlich die Verwertbarkeit auf allen Kanälen und Levels. Es geht ja nicht nur um die Digitalisierung der Kultur in Deutschland, sondern längst auf vielen Ebenen wie dem Büchermarkt um Forderungen an die europäische Politik, um gleiche Regeln und auch um europäische Forderungen an weltweit agierende Firmen wie Google, die inzwischen Kapitalgeber für Medien in Europa sind. Google, Apple, Facebook, Microsoft und Amazon wollen als Kapitalisten natürlich ihre Überlegenheit und Marktherrschaft weiter ausbauen, denn wer die Daten hat, hat Macht und bekommt immer mehr Kapital. Die Schriftstellerin Nina George sagt, die Digitalisierung sei bitter-süß. Süß – weil die Digitalisierung Chancen bietet: Publishing, Informationen, neue Kunstformen, Videokunst, Digitalkunst, on demand Kanäle jeder Art, MP 3, You Tube, Hörbucher. Neue Techniken wie Smartphone, Smartview, smarthome. Neue Verkaufstrategien.
Irrtümer, Interessen und Ausbildung bestimmen unser Denken, unsere Haltung. Propaganda und Ideologien nutzen unser Nichtwissen und Schwächen aus. Und sie benutzen jedes Mittel der Vereinfachung und unsere Vorurteile, um ihre Botschaften glaubhaft zu machen. Sie benutzen Menschen, um Ideologien mit Geschichten auszustatten und in die Geschichte zu integrieren. Um das Leben zu bewältigen und sich die Welt zu erklären, bedarf es Verstand, Erfahrung – und den Mythos. Er füllt die Orientierungslücken auf. Aber genau so wie Wissen, verlangt er unentwegt Anstrengung, weil Realität und mögliche Wahrheiten sich immer an Mythen reiben. Propaganda benötigt aber nicht nur die Menschen, als Geschichtenerzähler und Transporteure, sondern auch Kollektive wie Vereine, Parteien, Institutionen, Glaubensgemeinschaften, Staaten. Propaganda benötigt Organisation auf allen Ebenen. Im Kalten Krieg gab es zahlreiche halbinstitutionelle und staatliche Organisationen, die für West und Ost nicht nur Reklame machten, sondern sich am Widerspruch zwischen Realität und Mythen abarbeiteten. Sie nutzten damals die neuen Massenkommunikationsmittel wie Radio und Fernsehen, inzwischen sind das Internet und die Digitalisierung hinzugekommen. Diese neuen Techniken ermöglichen neue Lügen, Desinformation, Zensur und Propaganda. (Wahr ist auch, dass kein Medium dauerhaft gegen die Interessen und das Weltbild der Eigentümer agieren kann. Die Auswahl der Redaktionen sorgt schon für einen Grundkonsens.)
Medienpluralismus muss also immer wieder erkämpft werden, nur die technischen Möglichkeiten garantieren ihn nicht. Die Mächtigen und die Besitzer, die Reichen entscheiden über die Propaganda; die Bürger, die User können über die Freiheit, die Vielfalt der Meinungen, über die Wahrheitsfindung und Informationsmöglichkeiten entscheiden. Hierzulande wenigstens. Oder aber wie im Fall IS über ein Dauerfeuer an Propaganda und Lügen. Allein bei Twitter gibt es 40 000 Accounts mit entsprechender Ausrichtung der Selbstdarstellung pro IS.
Das Internet, das Netz hebt keinesfalls die Unterschiede zwischen Arm und Reich auf, im Gegenteil. Nach wie vor bezahlen die Armen mit ihrem Leben, mit ihrer Zeit, mit ihren Daten. Sie geben ihre Daten her, die werden nicht nur zur Tauschwährung im realen Sinn (mit diesen Daten wird Geld, Kapital, verdient, damit wird gewirtschaftet und spekuliert), sondern diese Daten verwandeln sich auch in ein Herrschaftsinstrument. Bargeld ist anonym, unsere Daten aber, kristallisiert zu Kilobytes, sind Abbild unsers Lebens. Google und Facebook können nur funktionieren, wenn es den Unternehmen gelingt, unsere Existenz in seine Verfügungsgewalt zu bringen. Dann eröffnet sich eine neue ökonomische Dimension der Kapitalanhäufung, aber nicht bei den Lieferanten der Daten. Jeder Anbieter digitaler Dienstleistungen – gleich, in welchem Bereich – weiß, dass er seine Apps besser innerhalb als außerhalb von Facebook arbeiten lässt. Es sind immer die „Armen“, die die Kosten decken müssen mit ihrem sozialen Leben und ihren Daten.
Über Plattformen wie Instagram suchen sich Unternehmen neue Kunden und Leute gehen auf Warenentdeckungsreise. Die Nutzer teilen ihre Fotos: Ausschnitte des Lebens im quadratischen Format. Mehr als 200 Millionen Menschen nutzen die Plattform bereits, 30 Milliarden Fotos wurden schon geteilt, 70 Millionen Fotos kommen jeden Tag dazu. Bei Instagram wird das eigene Leben zur Galerie. Eine Art Schaufensterbummel durchs Sein. Jeder beeinflusst und wird beeinflusst.
 Studien belegen, dass Deutschland beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht Schlusslicht ist, also ausgerechnet da, wo die Digitalisierung tatsächlich zur Teilhabe und zum Begreifen dieser modernen Welt beitragen würde. Je mehr junge Menschen befähigt sind, sich souverän im Internet zu bewegen und lernen, was Digitalisierung für Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat. Digitale Medien können unterschiedlich benutzt werden, können Zugang zu Wissen ermöglichen oder die Realität komplett verstellen und verfälschen. Konsum oder Kreativität. Digitale Ausbildung kann also viel mehr sein als der Einsatz digitaler Medien. Wilhelm von Humboldt versteht Bildung als einen Prozess der „Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“. Die digitalisierte Welt kann! Menschen zu sozialer Interaktion und Vernetzung über nationale und hierarchische Grenzen hinweg helfen. Kann. In vielen Staaten steht das Internet unter Zensur. Das Kapital sieht ausschließlich den wirtschaftlichen Mehrwert. In den Schulen bei uns sollten Kinder und Jugendliche ermächtigt werden, die Logik von Algorithmen zu begreifen und selbst zu gestalten. Sie sollten in der Lage sein, digitale Medien, Netze und Strukturen selbst zu gestalten. Davon sind wir weit entfernt. Nicht einmal die Medienpädagogen an den Universitäten sind entsprechend ausgebildet und die Seminare nicht ausgestattet.

Es gibt es die Idee und den Ansatz, dass revolutionäre Netze durch kollektive Bewegungen entstehen könnten.
Die Nutzung des Netzes speist sich aus mehreren Motivationen:
 die erste Motivation war der Wunsch nach Information
 die zweite entstand aus der Möglichkeit, Spuren zu hinterlassen
 und schließlich merkten die Nutzer, dass sie dadurch einen Machtgewinn erhalten – könnten.
Die Folge könnte sein: Sie schließen sich zusammen zu Bewegungen, um Einfluss zu nehmen, auch um Gesellschaft zu gestalten. Durch diese Entwicklungen haben wir nicht nur einen stärkeren Kunden, der das Angebot mitbestimmt, sondern auch einen stärkeren Bürger. Politisch heißt das, dass mehr Macht vom Bürger ausgehen könnte. Das bedeutete: zivilgesellschaftliche politische Prozesse sind nicht nur verstärkt möglich, sie passieren, und zwar ganz von selbst, überall da, wo Diskurse entstehen, und zwar nicht vorhersehbar, denn wir haben es mit nicht- linearen Systemen zu tun. Voraussetzung für die Entstehung solcher zivilgesellschaftlicher Prozesse ist allerdings das Sichtbarmachen von Themen, das Anregen von Diskursen.
Gleichzeitig finden über die Prozesse der kollektiven Thematisierung auch kollektive Wissensbildungsprozesse statt. Das heißt: Über Plattformen wie Wikipedia der Wikimedia Foundation, in denen Wissen kollaborativ generiert wird, geben wir den Anspruch auf exklusives Wissen auf. Das bedeutet nicht nur, dass niemand mehr mit Fug und Recht behaupten kann, über das richtige Wissen zu verfügen, sondern auch, dass z. B. wissenschaftliches Wissen nicht mehr Bildungseliten vorbehalten bleibt. Jeder hat freien Zugang zu umfangreichen Wissensinhalten, die von einer „Community“ erstellt, editiert, kritisiert und möglichst noch in eine Sprache übersetzt wurde, die jedem verständlich ist. Das ist eine Idee. Gleichzeitig gibt es Länder, die ihr Internet zensieren, abschalten, bereinigen, steuern, verbieten.
Die Surrealisten haben den Digitalkünstlern schon in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, wie man irreale Welten ohne Computer schaffen kann. Zum Beispiel Dalís zerfließende Uhren. Seit der letzten Jahrtausendwende erleben wir gleichzeitig modernste Technik, von der wir nur ahnen, was sie alles verändern wird, auch das Rechtssystem, die Umgangsformen sowieso, und – gleichzeitig – archaische, chaotische, barbarische Kriege der Menschen gegeneinander. Wir werden die Zivilisation verlieren, die Religionsfreiheit, die Menschenwürde, wenn wir nicht lernen, die Welt in ihrer Vielfalt, real – digital, verfälscht, wahr, wieder auseinanderzuhalten. Poesie rechnet sich anders als digitalisierte Kultur und ihre Chancen.
Im Januar 1816 schrieb Annette von Droste-Hülshoff das lange Gedicht „Unruhe“. Da steht am Schluss:

„Fesseln will man uns am eignen Herde!
Unsre Sehnsucht nennt man Wahn und Traum
Und das Herz, dies kleine Klümpchen Erde
Hat doch für die ganze Schöpfung Raum!“
Eben diesen Raum sollten wir schaffen: poetisch, ökonomisch. Jenseits vom Marktpreis.

 © J. Monika Walther