Der Tod eines Traumes – Menschen missbrauchen einander

Es gibt ein Leben vor dem Tod. Aber keine Garantie, dass es ein Leben in Würde wird. Ein Leben, das von anderen geachtet, vielleicht gar geschützt wird. Denn Menschen können es nicht lassen einander zu töten, auszurauben, zu hassen, zu bekriegen. Einander zu verletzen an Leib und Seele. Einander auszubeuten. Einander zu missbrauchen. Auch sexuell. Auch kleine Jungen und Mädchen. Weltweit, in Netzwerken, auf Campingplätzen, in Heimen, Vereinen und in Familien. In der Kirche. Während Glaube gelehrt und verkündet wird, werden Kinder missbraucht. Nicht alles Unfassbare geschieht irgendwo auf der Welt. Nein, der Campingplatz ist nebenan. Die Familien leben im Ruhrgebiet. Die Kirchen stehen im Münsterland.

© Dietmar Rabich

Unmöglich ist es, über alles zu trauern, was an Verbrechen gegen Menschen, gegen die Menschlichkeit durch Menschen auf der Welt geschieht. Fast sinnlos ist es, über alles, was an Grausamen und an Elend durch Menschen geschieht, sich zu empören. In Geschrei auszubrechen. Jede und jeder  Einzelne muss Verantwortung, privat und beruflich, übernehmen. Für sich und für das, was geschieht. Zuhause, nebenan, auf der Straße. In den Gruppen. Den Fakten, den Taten nachzuspüren. Sie beharrlich aufzuklären. Nicht alles kann abgeschoben werden – auf die Oberen, die Polizei, den Staat. Hetze, Hass, gewalttätiges und beleidigenden Benehmen, sexueller Missbrauch ist nur möglich, wenn viele wegschauen, nicht zuhören, nicht mitfühlen, schweigen. Ihre eigenen Ämter und Macht missbrauchen. Der Fall des Kaplans Heinz Pottbäcker ist eines von diesen Beispielen: Die Kinder wurden nicht geschützt. Das Bistum in Münster schwieg und versagte Hilfe.
Der 2007 verstorbene Geistliche hat zahlreiche Kinder missbraucht. Seit November 2018 ist der Fall Pottbäcker öffentlich: Der schändliche sexuelle Missbrauch schutzbefohlener Kinder durch einen pädophilen Kaplan und das Versagen der Amtskirche, die über Jahre den Täter schützte und die Opfer ignorierte. Der Fall wurde öffentlich, weil Martin Schmitz aus Rhede die Verbrechen des Priester öffentlich machte. Martin Schmitz ist Betroffener.
Das Schreckliche an dem Fall ist (wie bei vielen anderen Verbrechen auch), dass die Verantwortlichen im Bistum Informationen über die Taten des Kaplans gehabt haben müssen, sagt Diozösanrichter Dr. Hermann Kahler. Der damalige Generalvikar und spätere Bischof von Münster, Reinhard Lettmann, versetzte den pädophilen Priester von einer Gemeinde in die nächste. „In all den Jahren ist den Verantwortlichen nie der Gedanke gekommen, hart durchzugreifen und Kinder zu schützen.“
Bischof Felix Genn versprach bereits im November 2018 in Rhede, „alles zu tun, was mir möglich ist, um sexuellen Missbrauch in unserer Kirche heute und in Zukunft zu verhindern – daran will ich mich messen lassen“.
„Starke Worte“, sagte damals am Ende der Veranstaltung ein älterer Herr. „Wo aber blieben die starken Taten des Bischofs? Er selbst sei auch Opfer, ein Betroffener aus einer Ordensschule“. Für ihn seien das Worthülsen. Noch 2015 habe Bischof Genn gemeinsam mit weiteren Bischöfen in Werne ihren Amtsbruder Georg Müller beigesetzt. Georg Müller war 2009 zurückgetreten. 2010 wurde bekannt, dass der Bischof sich Anfang 1990 des sexuellen Übergriffs schuldig gemacht hatte.
„Ich verstehe nicht, dass nur über uns gesprochen wird, aber nicht mit uns“, sagte der ältere Herr.
Dr. Werner Thissen, emeritierter Erzbischof von Hamburg, hat in einem Interview schwere Fehler im Umgang mit sexuellem Missbrauch aus seiner Zeit im Bistum Münster eingeräumt. Vor seiner Einführung als Erzbischof von Hamburg im Januar 2003 hatte Dr. Thissen mehr als zwanzig Jahre Personalverantwortung im Bistum Münster getragen. Von 1978 bis 1986 war er als Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Bischöflichen Generalvikariat in Münster für den Priester-Einsatz zuständig. Von 1986 bis 1999 war er Generalvikar und damit Stellvertreter des Bischofs. 1999 wurde er zum Weihbischof ernannt.
Erst als Erzbischof von Hamburg, als er Betroffenen viele Stunden zugehört habe, sei ihm klar geworden, „was Missbrauch an Verletzungen und Schaden anrichtet.“ Von daher sei es ihm heute ein großes Anliegen, „das zu tun, was man jetzt tun kann: die Betroffenen hören, die Missbrauchsverbrechen offen legen, weil es für die Betroffenen sehr heilsam ist, zu spüren: Das ist nicht etwas, was wir jetzt auch noch verdrängen und geheim halten müssen, sondern etwas, worüber man sprechen kann. Wichtig finde ich auch, um Entschuldigung zu bitten.“
Für einen weiteren schweren persönlichen Fehler hält es Dr. Thissen, „dass mein Vertrauen in die medizinischen, therapeutischen Möglichkeiten überzogen und unrealistisch war.“
Thissen sieht es inzwischen sehr kritisch, wie die Personalkonferenz im Bistum Münster früher tagte: „Es fehlten jegliche Standards professioneller Personalführung.“ Wenn ein Missbrauchsfall mitgeteilt wurde, seien in der Regel alle Mitglieder der Personalkonferenz informiert worden. Dann sei besprochen worden, wer sich in der jeweiligen Situation kümmern solle. Insgesamt sei das Thema des sexuellen Missbrauchs eher ein „Nischenthema“ gewesen, das die Mitglieder der Personalkonferenz schnell auf Ärzte und Therapeuten abgeschoben hätten.
Mitglieder der Personalkonferenz waren damals der Bischof, der den Vorsitz hatte, der Generalvikar, die fünf Weihbischöfe, der Personalreferent und der Regens des Priesterseminars: „Diejenigen, die des Missbrauchs beschuldigt wurden, waren ja Priester, die wir gut kannten. Da kommt sehr schnell der Mitleidseffekt auf. In einer Personalkonferenz fragte mal jemand: ‚Muss der Täter denn nicht bestraft werden?‘ Die übereinstimmende Meinung war: Der hat sich doch durch sein Vergehen am meisten schon selbst bestraft.“
Die Öffentlichkeit sei nicht offiziell über die Fälle informiert worden; auch sei niemand auf den Gedanken gekommen, alle Verantwortungsträger in den Pfarreien zu informieren: „Wir sahen nicht, dass es klare Regeln zur Herstellung von Transparenz geben muss.“ Weder die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen, die heute selbstverständlich ist, noch Präventionsmaßnahmen seien im Blick gewesen.
Die Einsicht kommt in der Kirche, in allen gesellschaftlichen Institutionen, auch in den Familien, dem Haupt-Tatort sexueller Gewalt, spät. Zu spät für die Opfer, die traumatisiert sind und jetzt endlich auf Anerkennung ihres Leids hoffen. Aber nicht zu spät dafür, aus der Einsicht für Prävention und die Zukunft zu lernen. Sexuelle Gewalt in all ihren elenden und widerlichen Erscheinungsformen vom Menschenhandel bis zu pädophilen Dunkelmännern im Netz bleibt ein Problem, das eine Antwort des Staates und der Gesellschaft verlangt.
Im Augenblick ist keine Form des Zusammenlebens der Menschen in Sicht und organisierbar, in der die Menschen nicht einander ausbeuten, missachten und missbrauchen. Die Geschichte der Menschheit beweist dies leider. Pläne, Versuche und Träume gab es immer wieder, alle misslangen. Und selbst wo große Liebe geschworen wird, erschlägt der Mann die Frau, verwahrlosen Kinder in den Familien. Aber es muss sichere Schutzräume geben, dazu müssen weltweit endlich die Kirchen gehören. Sie haben lang genug gezaudert, Verbrechen begangen und zugelassen, verdrängt. Ab jetzt müssen sie handeln und für ihre Lehre und ihren Glauben einstehen. Sie müssen endlich ein Baustein der Zivilisation werden.
Wir brauchen noch viele Bausteine, um die Zivilisation des Menschen voranzubringen. Um organisierte Gier, Raub, Mord, Krieg und Missbrauch einzudämmen.

© J. Monika Walther 12/2019