Fluchtlinien – wie die Welt sich in Innen und Außen teilte
Claudia Marcy: 2023 erscheint „Fluchtlinien – Wie die Welt sich in Innen und Außen teilt“, in der Sie Ihre Familiengeschichte zum Thema machen. Wie kann man „Fluchtlinien“ beschreiben – als autofiktionalen Roman, in dem sich Autobiografie, historische Fakten und Fiktion durchdringen – vergleichbar mit den Texten der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux?
Begonnen hatte ich vor Jahren mit vierzig Seiten über meinen Geburtsort Leipzig, die ich atemlos geschrieben habe, aber wie weiter? Auf der Suche nach Wahrheit tauchen viele Legenden auf, kleine und große Geschichten, die nicht wahr sind und doch erzählen, was gewesen ist oder gewesen sein sollte. Eine Selbstbeschau sind die Fluchtlinien nicht. Nein, ich schreibe die Geschichte einer Familie, meiner jüdischen, schlesischen, preußischen Familie, die Wanderungen von Ost nach West, der schließlich gelungene Aufstieg während der Gründerzeit in Leipzig; ich schreibe diese Geschichte so wahr wie möglich, aber eben auch mit ihren Legenden, Lügen und all den schwarzen Flecken. Und da ich ja dazu gehöre, schreibe ich auch über mich. Meinen Weg vom Rand, vom Nichtwissen bis hin zum Begreifen, wie ich dazugehöre.
Claudia Marcy: Wer Ihre Romane, Essays, Gedichte und Texte kennt, weiß, dass Sie sich schon lange mit Ihrer Herkunft und Ihrer Herkunftsfamilie beschäftigen. Wann kam der Entschluss, tatsächlich den verschiedenen Familienlinien nachzugehen?
Das Thema hat mich lebenslang beschäftigt. Als Kind fragte ich und es gab keine Antworten. Dann gab es die Verwandten kreuz und quer in der Welt. Ich wurde in Züge gesetzt nach Haarlem, Boulogne-sur-Mer, Liverpool. Es gab Post aus Kanada und den Vereinigten Staaten. Tanten und Onkel erzählten dies und das, kleine Spuren wurden gelegt. Irgendwann bekam ich dann Notizbücher, meine schweigende Mutter hinterließ einiges, eine meiner Cousinen auch. Und ich musste mich um die Idastraße, das Haus der Großmutter in Leipzig kümmern.
Claudia Marcy: Wie muss man sich Ihre Arbeit vorstellen? Haben Sie in Archiven geforscht, Anfragen bei Behörden gestellt, in alten Akten und Dokumenten geblättert, Stammbäume von den verschiedenen Familienzweigen erstellt? Kontakte zu weit entfernt lebenden Familienmitgliedern aufgenommen? Stand für Sie von Anfang an fest, wessen Lebensgeschichte Sie verfolgen wollen, oder hat sich das im Laufe der Recherchen geändert?
Die mir aus der Familie übergebenen Dokumenten und Fotografien waren eine Grundlage, auch meine eigenen Notizen, viele Briefe, zahllose Ordner zum Leipziger Haus. Recherchieren musste ich natürlich einiges, aber viele Archive sind ja online zu benutzen. Selbst alte Militärakten ließen sich so finden. Oder die ganze Geschichte der Schriftgießerei Böttger in Leipzig oder dieder Äcker in Anger und Crottendorf vor den Toren der Stadt Leipzig, die von den Brüdern Wohlrath gekauft und bewirtschaftet wurden.
Claudia Marcy: Sind Sie zu Originalschauplätzen gereist? Hilft das bei der Recherche – schließlich haben sich die Menschen, die Häuser, die Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten verändert.
Bei den Reisen durch Polen, Litauen und Lettland, sei es wegen eines Stipendiums in Ventspils oder zur Schriftstellerin Helga M. Novak, habe ich immer Wege gesucht, um Familienorte wie Posen/Poznań, Hirschberg/Jelenia Góra oder den Landkreis Goldberg-Haynau kennen zu lernen. Dort ist noch Vieles so, wie es einmal war. Ich wollte fühlen, wie sie die Schneekoppe gesehen haben, welche Weg sie hatten.
Claudia Marcy: Haben Sie einige Überraschungen erlebt, als Sie sich mit Ihrer Familien beschäftigt haben?
Die Überraschung kam am Ende des Buches, als ich endlich begriffen hatte, dass ich nicht irgendwo am Rand dieser jüdischen Familie stehe, sondern dass ich dazugehöre, auch wenn ich in Deutschland die Letzte bin, aber in den Vereinigten Staaten gibt es eine große Verwandtschaft. Auch wenn ich immer noch vieles nicht weiß, bin ich nun erwachsen. Und alle haben genug für mehrere Leben erlebt. Gefreut hat mich, dass meine Großmutter, die Kolonialwarenhändlerin, aus der Familie der Schriftgießerei Böttger kommt. Die Familie war ja so groß, weil die Großeltern vor ihrer Verbindung schon einmal verheiratet waren. Großmutters erster Mann fiel sofort im 1. Weltkrieg, Großvaters erste Frau starb an der Spanischen Grippe.
Claudia Marcy: Das Manuskript ist fertig. Was gibt es jetzt für Sie zu tun und was steht Neues an?
Im Augenblick bin ich beim zweiten Korrekturgang. Das Buch soll nächstes Jahr erscheinen. Zum Herbst hin. Und wie immer entsteht schon wieder etwas Neues, das gar nicht neu ist, denn ich wollte schon immer ein Tagebuch der unmöglichen Reisen schreiben.
( Dülmener Zeitung 30.11.2022,Gespräch zwischen der Journalistin Claudia Marcy und Jay M. Walther)