Lesebuch Jay Monika Walther

Münster 1966

Mit dem Reifezeugnis im Koffer fuhr ich zwei Tage nach der Abschlussfeier in Heilbronn am Rhein entlang bis nach Münster. 1966. Ich stand mit meinem Koffer auf dem Domplatz und heulte. Mich trösteten die alten Kastanienbäume und das schöne Institut für Publizistik. Dort werde ich studieren. Ich brauchte ein Zimmer und Geld. Ich hörte Geschichte, Soziologie bei Luhmann, Philosophie, Psychologie. Lernte Statistik und Empirie. Schrieb Seminararbeiten zum Thema Hörspiel. Schrieb Filmkritiken für die Westfälischen Nachrichten und ergatterte eine kleine Stelle in der Bibliothek des Institutes. Ich wurde Mitglied der Roten Zelle. Wir besetzten das Institut. Dem damaligen Rektor, der nach dem Rechten sehen wollte, versperrte ich den Zugang: Sie haben hier nichts mehr zu sagen. Selbstverwaltung. Ich strich den Vorraum in Rot. Einige warfen Bücher vom Dach des Institutes in den Garten der Nonnen, einige wollten im Archiv Material zerstören, einige bauten vor die Tür von Professor Prakke, einem Niederländer, einen Stacheldrahtverhau. Dreimal stellte ich mich dagegen. Mit aller Heftigkeit. Der erste Riss in mir war da. Da nützen all diese nie endenden Versammlungen und Reden nichts. Ich schloss mich der Gruppe an, die im Institut kochte und aufräumte. Die Spaltungen begangen. Ja, ich sperrte eines Tages Dr. Lerg in seinem Büro ein, dann fiel mir ein, dass er seinen Hund bei sich hatte und schloss wieder auf. Später schrieben und arbeiteten wir zusammen über die »Werthaltungsanalyse publizistischer Aussagen«. Der Aufsatz hat bis heute
Bestand. 
Viele Demonstrationen. Eine bei Kiesingers Besuch in Münster. Ich hatte eine Tüte mit gemahlenem Pfeffer, mir gegenüber stand an der Tür zum Friedensaal ein älterer Polizist mit Schlagstock. Wir schauten uns in dem tobenden Geschrei und Gedränge an. Er sagte: Bitte nicht. Ich steckte die Tüte wieder ein. Er senkte den Stock. Herr Kiesinger gelangte zu seinem Krameramtsmahl. Faschist, Nazi, schrien Tausende. Sie hatten recht. Viele in diesem Nachkriegsdeutschland waren ehemalige Nazis, dachten und handelten reaktionär. Millionen ermordet, beraubt, aber kaum Verurteilungen. Alle schwiegen, alle hatten nichts gesehen
Unsere inzwischen kleine rote Zelle fuhr zweimal die Woche nachts zu den Faserwerken Hüls in Marl. Wir wollten, dass die Arbeiter rote Betriebsräte wählten. Es war Winter 1969. Ein Arbeiter sagte zu mir: Mädchen, du frierst ja. Ich spendiere dir einen Kaffee. Er erzählte von seiner Arbeit, seiner Familie. Ich dachte, wie komme ich dazu, so einem Menschen zu sagen, was er tun soll. Ich habe doch gar keine Ahnung. Ich war bürgerlich. Ich sollte mich um meine Dinge kümmern. In der bürgerlichen Wohnstube aufräumen.
Wenige Wochen später lösten wir unsere Zelle auf. Wir gründeten eine Buchhandlung. Ich baute mit anderen das erste Frauenzentrum in Münster auf. Ich las begierig. Jahre später gründete ich den Verlag Frauenpolitik. Ich kam bei all diesen Engagements immer an eine Grenze. Ich wurde kunterbunt beschimpft als faschistische Luxemburgistin, rechte Sozialistin, Anarchistin und begriff mit den Jahren, dass ich mit meiner Familiengeschichte immer eine Bürgerliche blieb, die inbrünstig sich wünschte, dass alle einander achteten. Ich habe meine Großeltern nicht erleben dürfen, aber manchmal dachte ich, es ist, als hätten sie mich erzogen. Auch Onkels und Tanten sagten: Respektiere die Arbeit und das Leben anderer. Mit dem Engagieren hörte ich nie auf, aber es gab immer eine ›Werthaltungsanalyse‹. Und die große Begeisterung für Freundlichkeit.