Ich weiß alles, aber sag es dir nicht – Erzählperspektiven

Jede Erzählperspektive bewirkt einen anderen Beginn und Verlauf der Handlung, vermittelt einen anderen Eindruck der Ereignisse, lässt die Leserin etwas anderes erleben und wissen. Ein Familientreffen, ein Essen – alle sitzen um den Tisch. Ein Mädchen spielt in einer Zimmerecke. Ein Mann steht im Türrahmen und hört zu. Satzfetzen dringen bis in die Küche. Die fünf Menschen, zwei Paare und ein selbstgefälliger Gastgeber, am Tisch streiten sich, Drohungen werden gebrüllt. Das kleine Mädchen rennt auf die Terrasse. Jede Person erlebt eine andere Szene, verfügt über anderes Wissen. Wenn alle diese Ichs ihre Geschichte erzählen würden (die Ich-Erzählerinnen) wissen wir immer noch nicht alles. Wir erfahren eine Fülle an verschiedenen Geschichten; vielleicht erfahren wir nicht einmal, was es zu essen gab, von welchem Geschirr gegessen wurde, wie der Tisch eingedeckt war, weil es keinem der Ichs wichtig war. Vielleicht spricht nur die Frau in der Küche davon, dass es immer lauter wurde, als sie die Kartoffeln in Zitronenschaum schwenkte und nach dem Lachs sah.

Nichts wird von außen bewertet, wenn das Ich erzählt. Die Leserin sieht die Welt mit den Augen der Ich-Erzählerin. Wir erfahren nur das, was sie denkt, weiß, glaubt, erlebt zu haben.
Interessant ist, dass die Ich-Erzählerin personale und auktoriale Perspektiven annehmen kann. Das erzählende Ich kann eine Geschichte rückwirkend erzählen und somit allwissend in Bezug auf die Geschichte sein. Oder das personale Ich erlebt die Geschichte selbst und kann nur wissen, was es jetzt erlebt oder erinnert. Das Ich und die Leserin wissen beide gleich viel.
Wenn wir fragen, was die Erzählerin weiß (sie ist nicht identisch mit der Autorin), gibt es drei mögliche Antworten. Entweder weiß die Erzählerin alles über die Handelnden oder sie weiß nur von einer oder mehreren Personen oder aber sie weiß gar nichts und betrachtet eine Situation ausschließlich von außen. Ein Roman muss nicht durchgehend aus der gleichen Erzählperspektive erzählt werden. Die Position, die die Erzählerin im Laufe der Handlung einnimmt, kann sich verändern.
Wenn auf die Tischgesellschaft, auf das Haus, auf die vielen Ichs und Sichtweisen ein erzählerischer allwissender Gott schaute = die auktoriale Erzählerin, dann ist die Schreibende eine, die alles weiß über die handelnden Figuren. Dieses Wissen ermöglicht es der auktorialen Erzählerin, Zusammenhänge zwischen den Protagonisten und Gegenspielerinnen, aber auch zwischen allen anderen Charakteren der Geschichte aufzuzeigen. Außerdem ist es ihr möglich, das Geschehen in Rückblenden oder Vorwegnahmen zu erzählen. Eine wahrhaft göttliche Perspektive, aber die Erzählerin ist nicht identisch mit der Autorin. Also auch nicht in ihren Kommentaren und Wertungen. Die auktoriale Erzählerin weiß mehr als die Figuren, sie weiß, was diese denken und fühlen, kann Hintergründe beschreiben. Mit der Leserin blickt sie von außen auf die Geschichte, weiß aber viel mehr als diejenige, die liest.
Der Streit der Gesellschaft um den Tisch ist aber auch aus der Sicht einer personalen Erzählerin zu beschreiben. Ein Er, eine Sie oder das Mädchen, der Mann im Flur oder der Gastgeber. Die personale Erzählerin weiß keineswegs alles. Sie beschreibt das Geschehen aus der Perspektive einer einzelnen oder mehrerer Figuren der Geschichte und sie kommentiert nicht. Sie schlüpft in eine der Rollen und schildert der Eindrücke. Der drohende Gastgeber weiß, was er von den anderen will. Die Frau in der Küche könnte von seinem Plan wissen, weil er mit ihr gesprochen hat, als er die Einladung mit ihr besprach. Aus ihrer Sicht, als eine Sie, wäre die Geschichte also auch zu erzählen.

Die personale Erzählerin kann immer nur das wissen, was die betreffende Figur weiß. Alle anderen Hintergründe oder Geschehnisse, die nicht zu der Figur gehören, weiß sie nicht. Nur dann, wenn die Figur des Textes selbst darauf stößt. Folglich kann die personale Erzählerin keine Rückblenden oder Vorwegnahmen zum Erzählen nutzen. Die Leserin erfährt es nur dann, wenn die Figur selbst darüber spricht oder sich an Vorhergegangenes erinnert.
Eine weitere Möglichkeit ist die neutrale Erzählerin. Sie schildert ausschließlich, was äußerlich wahrnehmbar ist. Vergleichbar mit einer Kamera bei einem Banküberfall. Oder wenn der Mann im Türrahmen ein Fremder wäre, der etwas abzugeben hat und nicht weiß, was die Tischgesellschaft umtreibt. Die neutrale Erzählerin greift also nicht alles wissend ein und kommentiert nicht das Erzählte oder nimmt die Perspektive einer oder mehrerer Figuren ein. Sie beschreibt, wie die Figuren handeln und agieren. Der Gastgeber schreit, das Mädchen rennt auf die Terrasse, die beiden Paare schauen betroffen auf ihre Teller, aus der Küche ist ein Klirren zu hören. Effi Briest von Theodor Fontane ist ein Beispiel für diese Erzählweise.
Viele Romane setzen auf eine einzige Erzählperspektive, aber es ist auch möglich, die Erzählweise zu wechseln. Die Geschichte kann von verschiedenen Ich-Erzählerinnen vorangetrieben werden, aber auch ein Wechsel zwischen den anderen Perspektiven ist durchaus möglich und in der Literatur zu finden. Solche Perspektivwechsel gibt es in der moderner Literatur, die das Erzählschema aufzubrechen. Ein Beispiel ist der Roman Berlin Alexanderplatz von Döblin.
Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen vier verschiedenen Erzählperspektiven. Die auktoriale (allwissende), personale (Er/Sie-Perspektive), neutrale (ohne klare Erzählsituation) und dem Ich-Erzähler. Alle vier ermöglichen einen anderen Blickwinkel auf die Geschichte. Aus keiner erfahren wir aber, was die Autorin denkt und meint. Sie ist diejenige, die das Erzählen steuert, aber nicht verrät, was sie alles weiß, warum sie was wie macht. Sie muss aber ihr Handwerk können, sonst gerät der Ablauf der Handlung, geraten die Perspektiven durcheinander. Dann kommt die Frau aus der Küche und gibt dem Gastgeber eine Ohrfeige und sagt: So benimmt man sich nicht. Oder das kleine Mädchen besteigt den Tisch und sagt: Erwachsene sind immer so laut. Aber auch das wäre mit einer neutralen Perspektive zu erzählen.

© J. Monika Walther

 (Bild von Oskar Schlemmer)