Die Kirchenbuchhalterin Elfriede Kerstein

Die meisten Leute denken, Buchhaltung wäre eine schwierige Geheimwissenschaft oder diese endlosen Zahlenreihen und Kontenführungen wären etwas für fantasielose Bürokraten. Aber beides stimmt nicht. Die Buchführung im Kleinen wie im ganz Großen ist nicht nur ein spannendes Puzzle in der Abbildung der Realität, der gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern auch ein bunter Jahrmarkt für die Schaffung von neuen Wirklichkeiten. Wichtig ist bei der Buchführung ja nicht die Wahrheit, sondern dass alle Vorgänge erfasst und zugeordnet werden.
Das amerikanische Journal ist die einfachste Form der doppelten Buchführung. Als Erstes ist zu begreifen, dass nicht das Haben, also das erhaltene Geld, die Bezahlung, positiv ist, sondern die Forderungen an andere, das Soll wird ein Haben, das Haben ein Soll. Wenn also Verbindlichkeiten und Forderungen gebucht sind, erfolgt die sachliche Aufteilung im Hauptbuch auf die Sachkonten, auch da wird wieder zweimal gebucht. Die Summe eventuell aufgeteilt, zum Beispiel aus dem Wareneinkauf die Mehrwertsteuer herausgerechnet, die das Finanzamt erstatten soll. Und schon sind wir bei der ersten Möglichkeit im Kleinen wie im Großen zu betrügen, mit Verbindlichkeiten zu jonglieren. Cum Ex ist dann die ganz große Masche. Als Freischaffende oder kleiner Gewerbetreibender werden eben die Tankbelege der ganzen Familie eingesammelt, jedes Regal ist für den Betrieb oder das Arbeitszimmer nötig. Da gibt es eine Grauzone. Betriebe bezahlen für diese Gestaltung der Buchführung Fachleute. Schwarz wird es in der Grauzone, wenn ich einfach ein paar erfundene Rechnungen buche, um die Mehrwertsteuer zu erhalten. Früher, bevor es Computer gab, wurden die amerikanischen Journale per Hand geführt. In feiner Schrift. Das ist noch gar nicht so lange her. Ich habe das insgesamt dreißig Jahre „nebenbei“ bis zur Bilanz für einen Verlag gemacht.
Anfang der 50er Jahre wurde in meiner Familie das im Faschismus Verschwiegene lauter; und die Unruhe begann. Auch für das Kind. Für mich. Statt einem Zuhause gab es die halbe Welt zu durchqueren. Eine heimatlose Kinderzeit. Viele Orte, andere Sprachen, Dialekte. Ich fiel aus mir heraus. Ich war tüchtig und manchmal glücklich in der Fremde. Die alten Gassen in Amsterdam. An der Hand von Onkel Jaap. Unglücklich, weil ich selten wusste, wer diese Leute waren. Glücklich in Boulogne-sur-Mer. Glücklich mit meiner Cousine Barbara am Lake District, unsicher in Liverpool und London. Immer erstarrt, wenn einer dieser fremden Verwandten sagte: Mit dir spreche ich kein Deutsch. Ich spreche mit niemandem mehr Deutsch. Froh beim Bergsteigen in der Schweiz. Allein in den Wohnungen und in Habtachtstellung bei allen Umzügen. Glücklich bei Tante Hanna im Schwarzwald, glücklich und beruhigt. Sie war eine Buchhalterin. Aus Berlin, aber nach verschiedenen Fluchten in Gernsbach gelandet.
Auf der Zugfahrt, entlang der Murg, stand ich am offenen Fenster und konnte nicht genug Wind um den Kopf spüren, nicht genug sehen. Die Kiefern, die Fichten. Die Böschungen. Die dunklen Hänge. Aussteigen in Gernsbach und Tante Hanna in die Arme fallen. Wärme und Essen. Sie hatte sich eine Woche freigenommen. Sie hatte die großen amerikanischen Journale aus dem Holzbetrieb in Gaggenau, in dem sie als Buchhalterin arbeitete, nach Hause gebracht und wir rechneten Spalte für Spalte. Bald konnte sie sich auf meine Zahlen verlassen. Den Fehler im Monatsabschluss fand ich heraus. Zwei Pfennige. Später lernte ich, wie solche Beträge zu finden sind. Nie ist die Summe zu suchen, die angeblich fehlt. Nein, entweder muss sie immer weiter durch zwei geteilt werden oder mit zwei multipliziert. Wo zwei Pfennige oder Cents gesucht werden in der Bilanz, können sechzehntausenddreihundertvierundachtzig Mark oder Euro der Auslöser gewesen sein. Wo viele Hunderte fehlen, finden sich vier Euro.
Der Wistleblower Howard Wilkinson, der in seinem Büro in Tallinn 2013 eine erste Mail an seinen Arbeitgeber, der Danske Bank, schrieb, hatte nichts anderes getan, als Zahlenreihen betrachtet und sich gefragt, was hinter zweihundert Milliarden Umsatz an Geschäften steckte. Wie waren sie generiert worden? Was Howard Wilkinson damals noch nicht wusste, dass er dem größten Geldwäscheskandal auf die Spur gekommen war. Neben dem normalen Wirtschaftssystem existiert bis heute und immer weiter eine perfekt organisierte kriminelle Untergrundökonomie. Verbunden sind beide Systeme durch Notare, Banken, Rechtsanwälte, Steueraterfirmen, unzählige Briefkastenfirmen, Billionen an Geld und Waren, die kreuz und quer durch die Länder geschleust werden.
Ich fuhr als Kind gerne nach Gaggenau zu meiner Tante, spitzte die Bleistifte, füllte den Lohn der Arbeiter in die Tüten, klebte die Lohnstreifen darauf und war stolz darauf, wie meine Tante mir das Sägewerk, die Arbeit erklärte. Sie kannte alle Löhne und Kosten, wusste den Wert und den Preis der gefällten Bäume. Beschaffung und Verkaufspreis. Sie erzählte auch, dass es immer schwieriger wurde, die vielen Arbeiter im Wald und im Sägewerk zu bezahlen, weil immer weniger Geld mit dem Holz erwirtschaftet werden konnte. Sie schlug der Besitzerfamilie vor, das Holz noch weiter zu verarbeiten, nicht nur rohe Bretter zu liefern. Wenn ich mit meiner Tante Hanna im Sägewerk stand oder im Büro saß, gab es immer zwei Wirklichkeiten: die der Zahlen, die eine andere Geschichte erzählten als die Arbeit der Holzfäller und Männer im Sägewerk, der Fahrer, die das Holz auslieferten.
Die Katholische Kirche ist auch im Münsterland ein mächtiger Wirtschaftsbetrieb. Mit viel Landbesitz, Firmen und Einrichtungen aller Art. In manchen Gegenden gehört das meiste Land bis heute entweder dem Herzog von Croy oder der Kirche. Die Bauern arbeiten auf Pachtland. Und so betreibt auch der Bischof in Münster eine Buchhaltung, früher auf Papier. Amerikanische Journale. Also braucht es nicht nur Leute, die Bücher über die Liegenschaften führen, sondern auch eine Buchführung. Kosten Einnahmen. Soll und Haben. Forderungen und Verbindlichkeiten. Vorsteuer und Mehrwertsteuer. Möglichst wenig Steuer und viele Kosten. Im Roman ist Elfriede Kerstein eine Buchhalterin, die bis zuletzt die Journale und das Papier der digitalen Buchführung vorzieht. Sie hat ihr ganzes Leben lang als stellvertretende Leiterin in der Abteilung Finanzen und Vermögen alle Geschäfte im Bistum gebucht, kontrolliert und begriffen, was sich hinter den Zahlen verbarg. Wo Schmiergelder als Kosten auftauchten, wo Land weit über oder unter dem Preis abgegeben wurde. Sie führte nicht nur die offizielle doppelte Buchführung, sie belegte eine Kopie dieser Buchungen mit Dokumenten. Ihre Nachfolgerin entdeckt all diese Belege und Kommentare dazu. Sie begibt sich in Lebensgefahr.

(c) J. Monika Walther