Das Königreich Westphalen
„Die Wörter schlafen nicht in den Wörterbüchern/Sie ziehen um den Block, ziellos, spielen mit Munition.“ Mit diesen beiden Zeilen beginnt Durs Grünbein sein Gedicht „Vom Erlernen alter Vokabeln“. Ja, Wörter können Wirklichkeiten schaffen. In alle Richtungen. In Zeiten verschärfter Rhetorik können die Ewiggestrigen und Hartherzigen den Ton angeben, bis der Widerstand mit seiner Dialektik eine neue Wirklichkeit schafft.
Lebensgefährlich wird es, wenn die Inszenierung der Rechten, der Diktatoren so lange dauert, dass niemand mehr sich an die Grundregeln von Demokratie erinnert, niemand mehr andere Wörter im Ohr hat als das Geschrei.
Die Existenz des Königreichs Westfalen und der Einfluss der Franzosen auf Gebiete rund um dieses Königreich, auch auf das Münsterland, hatte auf Haltung und Sprache, auf die spätere politische Entwicklung eine besondere Bedeutung. Ursprünglich ging es darum, dass der jüngste Bruder Napoleons mit Land und Krone versorgt werden sollte. Also schuf Napoleon per Dekret vom 18. August 1807 auf preußischem Gebiet für Jérôme und Katharina das Königreich Westphalen. Ein Vasallenstaat, eine autoritäre Herrschaft, den Untertanen übergestülpt. Die eine Seite. Die andere Seite: Westphalen war als Musterstaat gedacht, mit einer modernen Justiz und Verwaltung. Und tatsächlich wurden die Patrimonialgerichte, die Steuerfreiheit des Adels und die Leibeigenschaft abgeschafft. Die Gewerbefreiheit, die Gewaltenteilung, die Gleichberechtigung der Juden, der Code civil sowie die Führung von Zivilstandsregistern und Kirchenbuchduplikaten wurden auf die vormals nicht-preußischen Gebiete ausgedehnt. Es gab viele neue Wörter und Zustände im ganzen Einflussbereich der Franzosen, die auch nach dem Ende des Königreiches 1813 nicht wieder beseitigt werden konnten. Als die alten Herrscher wieder in Besitz ihrer Landstriche und Güter kamen, ließen sich die Wörter und die damit gesetzten Freiheiten nicht einfangen. So wenig wie sich die Erfahrungen der Untertanen, die Widerstand gegen die Franzosen geleistet hatten, anullieren ließen.
Nach der Völkerschlacht in Leipzig 1813 löste sich das Königreich auf, aber die alte Ordnung war nicht mehr herzustellen und einige Wörter und Zustände waren nun den Untertanen, gleich wie sie eingestellt waren, bekannt. (J. Monika Walther)